Lässt sich Wahlinteresse „gamifizieren“?
Der SWR bietet mit „Wie entscheidest du?“ ein Browsergame zu den Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg an. Nils Bühler meint: Auch dieser recht gelungene Versuch spielerischer Aufklärung hat enge Grenzen.
Deutschland ist im Superwahljahr und das inmitten einer Pandemie. Ohnehin schon komplexe Themen werden nicht gerade übersichtlicher. Um eine Entscheidung bei der Wahl zu unterstützen, gibt es schon länger den einflussreichen Wahl-O-Mat, der die Übereinstimmung eigener Werte und Vorstellungen mit jenen der zur Wahl stehenden Parteien abgleicht. Der SWR hat nun ein weiteres Wahl-Game in Umlauf gebracht, welches sich – etwas sperrig – „Wie entscheidest du?“ nennt. Das klingt nach Gamification und Politik und in meinen Ohren damit eher nach einer alptraumhaften Kombination, schließlich haftet dem Ganzen ein „Gschmäckle“ vom Social Engineering inhumaner Human-Resources-Strategien an. Um zu überprüfen, ob mein Trigger begründet ist, habe ich mir das Game einmal angeschaut.
So läuft das Game
Als Regierungschef*in und Angehörige*r einer nicht genannten Partei soll man sich mit den Themen „Sicherheit“, „Geflüchtete“, „Natur“, „Pandemie“, „ÖPNV“, „Tierwohl“, „Ausbildung“, „Schule“, „Integration“ und „Klima“ auseinanderzusetzen und Entscheidungen treffen. Zu den Themen wird jeweils ein Dossier angeboten, mit dem man sich zur Entscheidungsfindung auseinandersetzen kann. Hier werden knapp einige grundlegende Informationen zusammengefasst, aber auch weitergehende Links zu diversen Nachrichten- und Informationsportalen geboten.
Jedes Thema wird mit einer Forderung eingeleitet, die von Parteimitgliedern oder anderen Personen und Gruppierungen geäußert wurde. Zum Thema Geflüchtete heißt es beispielsweise:
Ein Asylbewerber wird einer Gewalttat beschuldigt. Politiker*innen deiner Partei fordern, konsequenter Straftäter*innen in ihr Heimatland abzuschieben, auch wenn ihnen Folter droht. Deine Tochter bittet dich im Fernsehen, das nicht zu tun.
Einfach sind die Entscheidungen nicht, die auf diese recht steilen Einleitungen folgen. Zur Wahl stehen immer vier Optionen: Man kann sich erstens klar für oder zweitens klar gegen die Forderung stellen, sich drittens für eine Kompromisslösung entscheiden oder viertens die Entscheidung aufschieben. Man kann sich aber auch durch die Optionen durchprobieren. Trotz Informationsfülle und Entscheidungsvielfalt fällt schnell auf, dass es sich bei dem Spiel doch „nur“ um ein aufpoliertes Flowchart handelt.
Ganz gleich, wie man sich entscheidet, zuletzt wird einem gespiegelt, welche Konsequenzen folgen. Diese sind recht knapp zusammengefasst. Zu der Entscheidung, sich beispielsweise für ein schrittweises Verbot von Massentierhaltungen auszusprechen, heißt es:
Tierschützer*innen sagen, bis dahin würden die Schweine weiter leiden. Die Schweinehalter*innen warnen vor stärkerer Konkurrenz: Wenn Fleisch teurer werde, helfe das Firmen in der EU. Sie könnten dann Fleisch billiger verkaufen.
Das ist kurz und knackig.
Ein unerreichbarer Anspruch
„Wie entscheidest du?“ hat trotz der gnadenlosen Verknappungen, die so ein kurzgehaltenes Spiel nun mal verlangt, einige entscheidende Stärken. Es nutzt die Fähigkeit des Mediums „Game“, in einer übersichtlichen und doch nicht trivialen Art und Weise Zusammenhänge aufzuzeigen, ohne dabei hohe Zugangshürden zu schaffen. Ein Flowchart mit ähnlicher Informations- und Entscheidungsvielfalt wäre kaum zu überblicken – und wäre nicht geeignet, Menschen dazu zu bewegen, sich mit Themen auseinanderzusetzen, die als „nicht leicht“ gelten. Der SWR hat es auch geschafft, eine vielstimmige Gesellschaft abzubilden, indem jede Entscheidung sowohl zu positiven als auch zu negativen oder auch mal etwas skurrilen Reaktionen führt.
Dabei läuft das Game jedoch auch Gefahr, es sich etwas zu leicht zu machen. Vielstimmigkeit schön und gut – viele Aspekte politischer Entscheidungsfindung kann das etwa ein- bis zweistündige Spiel nicht vermitteln. Als Spieler*in agiert man doch als unpolitische*r Entscheidungsträger*in. Abgesehen von diffusen Hinweisen auf Expert*innen in der eigenen Partei, die extreme Positionen besetzen, findet sich keine Spur zu Verflechtungen in Parteistrukturen oder anderen Akteur*innen.
Da stellt sich schnell die Frage: Kann ein solches Spiel unabhängig und objektiv aufklären? Das SWR-Beispiel gibt sich alle Mühe, diesem Anspruch gerecht zu werden. Innerhalb der Möglichkeiten, die mit dem recht kurzen und möglichst hürdenlos gestalteten Game gegeben sind, macht „Wie entscheidest du?“ einen erstaunlich guten Job. Doch auch eine gut recherchierte und möglichst unparteiliche Spielstruktur ist immer noch eine Struktur, die gewissen Vorannahmen folgt.
Auswertungen und Krisenvernarrtheit im Aufklärungs-Spiel – warum?
Offensichtlich tendierte ich zu Kompromissen und Prokrastination mit wenig „klarer Kante“. Das macht mich laut Spiel zu einem ausgewogenen „Politikprofi“ (ich weiß nicht, inwiefern ich dieses Urteil bestätigen würde). Um zu schauen, wie das Game ansonsten bewertet, habe ich es in unterschiedlichen Modi wiederholt: Wenn man auf klare Kante setzt, ist man „entscheidungsstark“, sollte sich aber vor Gegnern in Acht nehmen. Wer sowohl auf Aufschieben als auch auf klare Kante setzt, sollte laut Game aufpassen, dass „nichts anbrennt“. Nur wer Entscheidungen lieber aufschiebt, macht es laut Auswertung also richtig.
Auch wenn alle vier Spielauswertungen mit „Super gemacht!“ betitelt werden, tendieren sie zu einer gemäßigten Mitte. Warum diese Art von Auswertung nötig ist, bleibt mir unklar. Sie dient dem Aufruf, sich dem „Next Level“, der tatsächlichen Landtagswahl, zu stellen, aber das hätte man sicher anders lösen können.
Was mich noch mehr stört, ist der Fokus des Spiels auf das medial Brisante. Ganz gemäß „nur was berichtet wird, zählt“, verkürzt „Wie entscheidest du?“ das Politische auf Nachrichtenzyklen und vergisst die Fähigkeit von Games, Zusammenhänge zu vermitteln, die über das konkret Affektive hinausgehen. Verlinkungen auf weiterführende Informationen reichen aus meiner Sicht da nicht aus, sondern betonen nur umso mehr, dass Fakten leider oft außerhalb des politischen Geschehens bleiben.
Bei aller Kritik ein guter Versuch
Trotzdem will ich „Wie entscheidest du?“ nicht zerreden. Der Versuch, Neuwähler*innen auf einen kurzen Ausflug in die Gedankenwelt der Regierungsführung einzuladen, schlägt nicht fehl. Die Gestaltung des Browsergames ist der Spielstruktur entsprechend schlicht gehalten und läuft damit auch nicht so sehr Gefahr, sich gekünstelt jugendlich zu geben. Eine Umsetzung in eine App wäre sicherlich sinnvoll gewesen – war aber vermutlich zu umständlich – und die Webseite ist für Mobilgeräte gut optimiert.
Sehr lange Rede, etwas kürzerer Sinn: Auch wenn sich „Wie entscheidest du?“ nicht ganz davon befreien kann, Verkürzungen vorzunehmen, ist es ein guter Versuch, das politische Geschehen in einem kleinen Browsergame für eine junge Zielgruppe aufzubereiten, das zumindest Lust auf mehr Experimente macht. Allein für den Versuch, ein Game für so einen Zweck zu entwickeln, gehört dem SWR auf die Schulter geklopft. Und wenn es nur dazu dient, dass man sich trefflich darüber streiten kann.
Nils Bühler
Der Medienkulturwissenschaftler forscht zu Games und medialer Kontrolle. Seit 2017 kommt der Digitalredaktion der result gmbh seine Leidenschaft zum Texteverfassen zugute, seit 2020 hat er die redaktionelle Leitung des Kultur-Blog inne.
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