Die Livemusik in Zeiten von Corona: Die Stunde der (ganz) Kleinen

„Das Ende der Livemusik“, „die endgültige Verlagerung der Musik ins Digitale“ oder „Rückkehr zum Bittstellertum“. Was wurde im April nicht schon alles zum Zustand der Musikbranche in den Zeiten von Corona geschrieben? Und jetzt? Schießen Biergärten mit Konzertmöglichkeiten wie Pilze aus dem Boden, und das Publikum nimmt dies dankbar an. Also alles wieder gut? Eine Einschätzung von Digitalredakteur und Musiker Michael Dorp.
Spätestens ab 16. März 2020 war Ruhe. Keine Clubkonzerte mehr, keine Festivals, keine Privatfeiern mit Livemusik. Nichts ging mehr. Alle Spielstätten waren geschlossen, und auch zu unterrichten war Musiker*innen plötzlich aufgrund der umfassenden Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie nicht mehr möglich. Was macht man da? Gut, der Proberaum musste eh schon lange mal aufgeräumt werden. Und wir wollten uns doch sowieso mal die Zeit nehmen, neue Musik zu schreiben oder einzuüben. Aber wie probt man neue Stücke ein, wenn man sich als Band oder auch als Chor oder Orchester nicht treffen kann? Und wovon leben wir Musiker*innen jetzt überhaupt, wenn wir keinen weiteren Job haben oder nicht bei einer Musikschule oder einem festen Ensemble angestellt sind? Ach ja: Mal abgesehen davon, dass wir auf Hilfsgelder vom Bund oder vom Land hoffen, machen wir jetzt alles digital: wer vom Unterrichten lebt, betreut seine Schüler*innen jetzt online, die Proben machen wir per Videokonferenz, und anschließend geben wir entsprechend gut aufeinander eingespielt Konzerte per Livestream.
Verlagerung ins Digitale?
Das hört sich alles super an, aber nichts davon funktioniert wirklich. Wer einmal versucht hat, über eine normale Internetleitung mit anderen Musiker*innen synchron zu spielen, versucht es aufgrund der zwangsläufigen Latenz der eintreffenden Audio- und Videosignale gar nicht erst ein zweites Mal, und auch der Online-Unterricht gestaltet sich schwierig. Schlagzeuglehrer Ande Roderigo aus Siegburg: „Wenn ein Schüler am anderen Ende etwas spielt und überhaupt nicht mitbekommt, dass ich gerade einhaken will, um ihm etwas zu sagen, dann zehren die Missverständnisse über eine komplette Unterrichtsstunde so sehr an den Nerven, dass ‚Notlösung‘ für die Situation wirklich nur ein unzureichender Begriff ist.“ Bleiben also die Streaming-Konzerte.
Ich selbst habe mit meiner Band „Summer of Love“ ein solches Streaming-Konzert gegeben, und gemeinsam mit einem netten und überaus kompetenten Technikteam hat uns die skurrile Situation in einer – bis auf die besagten Techniker und ihre sechs Kameras – leeren Halle sogar Spaß gemacht. Und neben schönen Bildern auf einer gut ausgeleuchteten Bühne für Promozwecke haben wir tatsächlich über die Spendenmöglichkeit per PayPal etwas Geld für unsere Arbeit bekommen, aber: Es sind nun mal Spenden. Und dieser Umstand führte viele Beobachter*innen der Livemusikszene in April und Mai schon zu dem eingangs geschilderten Horrorszenario für die Zeit über Corona hinaus: Das Publikum, so die Theorie, würde sich während des Lockdowns an grundsätzlich kostenfreie, bequem vom Sofa aus konsumierbare Streaming-Konzerte gewöhnen, für die man bei Gefallen nur gönnerhaft ein paar Euro abdrücken müsste, anstatt wie zuvor üblich im Vorfeld Eintrittskarten zu erwerben. Musiker*innen würden dadurch wieder zu Bittsteller*innen, wie es zuletzt in Zeiten des klassischen Mäzenatentums der Fall war, und der Live-Branche drohe nun das gleiche Schicksal wie dem Geschäftsfeld der Musik auf Tonträgern.
Klingt plausibel. Meine Beobachtungen der Entwicklung seit der schrittweisen Öffnung des Corona-Lockdowns bestätigen die These jedoch keineswegs. Als Stefan Pelzer-Florack, der Kulturamtsleiter der Stadt Grevenbroich, den Saal des von ihm verantworteten „Museum Villa Erckens“ als eine der ersten Indoor-Spielstätten in Nordrhein-Westfalen unter strengsten Auflagen am 20. Mai wieder für Musikdarbietungen öffnete, waren alle der angebotenen so genannten „Kleinen Salon-Konzerte“ binnen kürzester Zeit ausverkauft. Gut, in den 100 Quadratmeter großen Saal durften zunächst gleichzeitig nur acht Zuschauer, sodass man argumentieren mag, dass sich hier nur eine kulturinteressierte Minderheit einfand, doch wenn man bedenkt, dass diese Menschen es auf sich nahmen, bei aufgesetzter Atemschutzmaske mit riesigen Abständen zu ihren Sitznachbar*innen einer Darbietung hinter einer Acrylscheibe beizuwohnen, dann muss die Sehnsucht nach „echter“ Livemusik wirklich groß sein. Sängerin/Gitarristin Virginia Lisken: „Sowohl ich als auch mein Publikum empfanden während dieser Konzerte eine große gegenseitige Zugewandtheit, die sehr zu Herzen ging. Die Wertschätzung ist jetzt nach dem Lockdown eine viel größere, da Livemusik vielen nicht mehr so selbstverständlich erscheint.“
Konzerte als Stätten der Begegnung
Und der Eindruck, dass die Zeit der Entbehrung den Livemusik-Bedarf eher noch erhöht als vermindert hat, zeigt sich auch an der wahren Flut an kleinen Biergartenkonzerten, die allerorts sofort organisiert wurden, sobald die behördlichen Auflagen dies hergaben. Wer in der Gastronomie die Möglichkeit hatte, die entsprechenden Abstandsregeln einzuhalten, engagierte so schnell wie möglich Bands für die Außenbereiche, es wurden kleine Bühnen in improvisierten Biergärten von Kultureinrichtungen errichtet und Kommunen und Sponsoren halfen durch wohlwollende Genehmigungen und finanzielle Unterstützung vielfach mit.
Und das Publikum? Kommt in Scharen! Fast alle Biergartenkonzerte, die ich selbst in den letzten Wochen gegeben habe, waren ausverkauft, teilweise gab es daraufhin Zusatztermine, und wenn Veranstaltungen statt auf Eintritt auf Hutspendenbasis stattfanden, so war zu beobachten, dass die Hüte im Schnitt meist mit fast doppelt so hohen Summen gefüllt waren wie vor dem Lockdown. Es ist nicht zu leugnen: Eine riesige Anzahl an Menschen hat es extrem vermisst, Musiker*innen wirklich direkt zuhören und zusehen zu können. Denn Livemusik ist eben nie nur eine Musikperformance, die es zu rezipieren gilt, sondern immer auch eine Begegnung zwischen Menschen. Und das kann ein Livestream niemals ersetzen. Kurt Kister hat es in der Süddeutschen Zeitung bereits am 25. April absolut treffend ausgedrückt: „Ein Live-Konzert unterscheidet sich vom Stream wie die Liebe vom Liebesfilm.“ Bravo!
Die Kleinen als Mutmacher für die Großen
Also alles gut? Nicht ganz: Es ist zwar sehr erfreulich, dass vor allem die ganz kleinen Acts in der aktuellen Situation – zumindest in der Sommersaison – finanziell gut klar kommen, da sich selbst ein Konzert auf Hutspendenbasis für Solokünstler*innen, Duos und Trios in der Regel absolut lohnt, aber Künstler*innen, die in große Produktionen eingebunden sind, die weiterhin kaum stattfinden können, hilft das natürlich ebenso wenig wie der gesamten Veranstaltungstechnik-Branche, die ihr Geld naturgemäß eher mit größeren Ereignissen verdient. Markus Wimmer, Geschäftsführer der Jülicher Veranstaltungstechnikfirma „rent audio“: „Ich freue mich natürlich für jeden meiner zahlreichen Musikerfreunde, der im Moment ganz gut klar kommt, aber meistens bauen die Biergärtenbetreiber ihre kleinen Bühnen aktuell selbst und installieren ein bisschen farbiges Licht, während die Bands ihre eigenen Klein-PAs zu den Konzerten mitbringen. Meine Firma hat von diesem Trend zum Kleinen also wirklich gar nichts, da wir davon leben, bei größeren Veranstaltungen High-End-Technik aufzufahren, die kein Gastronom und kein Künstler selbst besitzt.“ Eine nur mit Kurzarbeitergeld zu meisternde Situation also, die nicht mehr allzu lange andauern sollte, damit derartige Unternehmen nicht Konkurs gehen.
Eine Erkenntnis allerdings bleibt: Der Stream im virtuellen Raum wird tatsächliche Livekonzerte auf keinen Fall obsolet machen. Die Menschen brauchen das Erlebnis von unmittelbar in ihrem Beisein aufgeführter Musik schlicht und einfach. Und davon werden langfristig auch „die Großen“ in der Musikbranche wieder profitieren. Egal ob es um eine Musicalproduktion in einer Stadthalle in der Provinz geht oder die Rolling Stones nach Corona ihre nun aber wirklich letzte Abschiedstour in den großen Stadien der Republik absolvieren werden – das Publikum wird da sein!
Michael Dorp
Michael Dorp war lange Jahre in verschiedenen Tätigkeiten für die Mediengruppe RTL tätig, bevor er 2016 als Digitalredakteur zur result GmbH wechselte. Er ist nebenberuflich als Musiker in verschiedenen Coverbands aktiv (Mad Zeppelin, Thin Crow, Summer of Love) und hat mit seiner Band Flying Circus seit 1997 zahlreiche eigene Alben im Genre des "Progressive Rock" veröffentlicht.
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MIr geht es auch so: Ich vermisse Live-Musik sehr und werde mich riesig freuen, wenn ich wieder Konzerte besuchen kann. Die Vorstellung, dass bis dahin eine Reihe von Musikerinnen und Musiker auf der Strecke bleiben, finde ich grauenhaft.