Musikalisch bezaubernd: Carmen in der Oper Essen

Umstrittene Inszenierung von Lotte de Beer stellt Geschlechter-Rollen in den Mittelpunkt
Ich hatte schon einiges von der Inszenierung der Oper Carmen in Essen gehört, die diese Saison als Wiederaufnahme im Programm war. Meine Freundin erzählte sehr begeistert von ihrem Besuch der Erstaufführung 2018, aber es gab auch verschiedene kritische Stimmen im Netz, wie zum Beispiel eine Rezension vom Deutschlandfunk.
Aus Termingründen hatte ich den Besuch der diesjährigen Wiederaufnahme von Carmen bislang nicht geschafft und war froh, wenigstens die letzte Vorstellung am 24. Juni 2023 noch besuchen zu können. Gemeinsam mit meinem Sohn und einer Freundin verbrachten wir einen kurzweiligen Abend in Essen mit grandioser Musik und vielen „Opern-Hits“.
Liebe, Freiheit und die Macht der Verführung
Die Geschichte von Carmen ist sicher sehr vielen bekannt: Es geht um eine schöne Zigeunerin, in die sich die Männer reihenweise verlieben. Vor allem der Soldat Don José verfällt der freizügigen und temperamentvollen Carmen. Sie erhört ihn, aber verlangt von ihm, dass er desertiert und mit ihr als Gesetzloser in den Bergen lebt. Nachdem sie dort gemeinsam einige Zeit verbringen, fühlt sich Carmen zu sehr von Don José eingeengt und trennt sich von ihm. Sie schenkt ihr Herz dem Torero Escamillo und will zu ihm gehen, obwohl Don José sie anfleht, bei ihm zu bleiben. Aus Eifersucht und Verzweiflung ersticht Don José am Ende Carmen.
Die 1875 uraufgeführte Oper von Georges Bizet spielt mit der Beziehung zwischen Männern und Frauen. Es geht um Liebe – natürlich –, aber auch um Freiheit, starke und schwache Rollenbilder und um die Macht der Verführung. Carmen wird als „Femme fatal“ dargestellt, als unzähmbare und begehrenswerte starke Frau, aber auch als „Vamp“, der die Männer in den Abgrund stößt. Don José wird als verführbar, schwach und der Liebe ausgeliefert gezeichnet, er ist das „Opfer“ von Carmen.
Foto: Matthias Jung, Theater und Philharmonie Essen GmbH
Wechselnde Kostüme und eine Bühne in Bewegung
In der Inszenierung von Lotte de Beer stehen diese Geschlechterbeziehungen im Mittelpunkt. Sie hinterfragt die Rollenbilder, indem sie alle Protagonisten einheitlich kleidet. Mal tragen alle Darsteller das identische einfache Kleid, mal sind sie alle in Hemd und Hose gekleidet. Es wird blitzschnell zwischen Männer- und Frauenkleidung gewechselt, oft tragen die Frauen Männerkleidung und umgekehrt.
So reduziert wie die Kostüme ist auch das Bühnenbild. Ein sand-gelber Kreis in der Mitte der Bühne stellt die Arena dar, in der sich die Handlung abspielt. Bewegung entsteht nur dadurch, dass die Bühne sich in einigen Szenen hebt oder senkt, so dass Etagen entstehen, auf denen sich die Protagonisten platzieren können.
Foto: Matthias Jung, Theater und Philharmonie Essen GmbH
Durch diese uniforme und schlichte Ausgestaltung der Oper wird alles fokussiert auf die Frage der Geschlechter. Es gibt keine Individuen, sondern nur Männer und Frauen, die sich als Gegner gegenüberstehen und genauso gut jeweils die Rolle des anderen übernehmen können, wenn sie nicht in bestimmter Weise geprägt wären. Diese Prägung wird symbolisiert durch zwei Kinder, die immer wieder im Geschehen auftauchen (ein Mädchen und ein Junge) und daran erinnern, dass Männer und Frauen sich in ihrem Verhalten entwickelt haben.
Gelungener Opernabend mit grandioser Musik
Insgesamt ist die Idee des Rollen- und Geschlechterkampfes sicher passend und für die Oper Carmen auch eine zutreffende Deutung. Allerdings hat Carmen aus meiner Sicht mehr zu bieten als nur das Thema Rollenbilder. Die einseitige Fokussierung auf dieses Thema mit den immer gleichen Instrumenten (Kostümwechsel, Auftritt der Kinder) ist für mich eine etwas zu einseitige Erzählweise, die viele weitere Facetten der Geschichte „überdeckt“. Gefallen hat mir allerdings das schlichte Bühnenbild, das sehr eindrucksvoll Raum schafft für die Protagonisten und die Musik.
Ein gelungener Opernabend ist die Aufführung von „Carmen“ dennoch. Dies liegt vor allem an der musikalischen Leistung des gesamten Ensembles. Orchester und Chöre singen und spielen fabelhaft, vor allem der Kinder- und Jugendchor begeistert mich sehr. Die Dirigentin Katharina Müllner führt das Orchester mit Tempo und Emotion durch den Abend. Es wird keine Sekunde langweilig.
Foto: Matthias Jung, Theater und Philharmonie Essen GmbH
Eindrucksvolle Darsteller im Aalto-Theater in Essen
Eindrucksvoll sind auch die Sängerinnen und Sänger in den Hauptrollen: Mein Favorit ist Lisa Wittig als Micaela, die tugendhafte Jugendfreundin von Don José und das Gegenbild von Carmen. Überzeugend sind auch Tenor Luis Chapa als Don José und sein Gegenspieler Escamillo in der Besetzung von Almas Svilpa.
Die Hauptfigur Carmen wird gesungen von Mezzo-Sopran Bettina Ranch. Sie bringt Carmen sehr rau und kühl auf die Bühne, für mich ein wenig zu holzschnittartig. Ihre gesangliche Leistung ist allerdings ebenfalls beeindruckend und ihr stimmliches Können selbst für mich als Laie deutlich hörbar.
Insgesamt war „Carmen“ in Essen ein kurzweiliges und sehr emotionales Opern-Vergnügen und der Besuch des Aalto-Theaters im Herzen des Ruhrgebiets hat sich wieder einmal sehr gelohnt. Ich freue mich schon auf die kommende Spielzeit, bei der vor allem Verdis Macbeth meine Neugier weckt…
Sabine Haas
Sie gründete 1994 das result Markt- und Medienforschungsinstitut, 2007 folgte eine Webagentur, im Jahr 2011 der Geschäftsbereich Beratung. Als Kennerin der alten wie auch Neuen Medien gehört sie zu den gern gesehenen Speakerinnen bei Fachveranstaltungen & Kongressen rund um das Thema "Digitaler Wandel/Medienwandel".
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