Jahrestage: Ein Tag und ein Leben für das Tanzen

Von |2023-02-16T12:45:12+01:0016.02.2023|Unterwegs|

„Was bleibt vom Tanz, wenn der Vorhang sich geschlossen hat?“, so die ersten Worte des Ausstellungskurators Thomas Thorausch, welcher mir an einem Tag Mitte Februar 2023 eine kleine Einführung in die Ausstellung „Jahrestage“ gab. Zu meiner großen Freude stellte sich bald heraus, dass diese Jahresausstellung im Tanzmuseum des Deutschen Tanzarchivs Köln gleich mehrere künstlerische Ebenen beinhaltet, für die auch ich eine Leidenschaft habe: Fotografie, Literatur, Zeichnen, Musik, natürlich das Tanzen und auch die Geschichte und Philosophie des Lebens.

So beginnt die Ausstellung mit einem Zitat von Thomas Bernhard: „Alle leben mindestens drei Leben: ein tatsächliches, ein eingebildetes und ein nicht wahrgenommenes.“ – Worte, welche die Besucher*innen sicherlich erstmal ein wenig (über das eigene Leben) nachdenken lassen und auf das einstimmen, was sie in dieser Ausstellung erwartet.

 

Zitat von Thomas Bernhard im Tanzmuseum Köln

 

12 Geschichten von Tänzerinnen und Tänzern des 20. Jahrhunderts

Die Ausstellungen im Tanzmuseum finden einmal jährlich unter einem bestimmten Thema statt, welches durch ausgewählte Zeugnisse aus den reichhaltigen Beständen des Tanzarchivs entsteht. Kern der Ausstellung „Jahrestage“ sind Geschichten von Tänzer*innen des 20. Jahrhunderts, welche anhand eines besonderen Tages und übermittelten Dokuments erzählt werden. Dieser Tag steht dabei sowohl für den persönlichen Lebensweg als auch für die Geschichte des Tanzes.

Passend zu den 12 Monaten eines Jahres werden insgesamt 12 Geschichten in einer offenen und zugleich ineinander verwobenen Ausstellungsarchitektur präsentiert, welche viel Raum für Interpretationen lässt. So wundert es nicht, dass sich zwischen den einzelnen Geschichten der gezeigten Persönlichkeiten immer wieder Parallelen zeigen. Denn wie das Leben so spielt, können Geschichten und Wege in Raum und Zeit auf unterschiedliche Weise miteinander verbunden sein.

Eine große Gemeinsamkeit der 12 Tänzer*innen besteht zum Beispiel darin, dass sie sich auch durch Zeichnungen künstlerisch ausgedrückt und Ideen oder Erlebnisse in Notizen festgehalten haben. Zeugnisse dieser Ausdrucksformen sind ebenfalls Teil der Ausstellung.

Zeichnung und Worte von Tänzerin Käthe Wulff im Tanzmuseum Köln

 

Kleine Zeitzeugen und ausdrucksstarke Fotografie in Lebensgröße

Direkt zu Beginn des Ausstellungsraumes ist eine der bekanntesten deutschen Tänzerinnen auf einer lebensgroßen und ausdrucksstarken Schwarz-Weiß-Fotografie zu sehen: Mary Wigman. Mit ihrer Geschichte und dem Tag des 1. Septembers 1972 beginnt die Ausstellung. An diesem Tag ihrer Lebensgeschichte befindet Mary sich ein Jahr vor ihrem Tod an einem Ort, der für ihr Leben von großer Bedeutung war.

Ein kleines Foto von Mary ist Zeitzeuge dieses Tages und erzählt von ihrer Geschichte: Mary ist am Lago Maggiore in der Schweiz, von wo aus sie auf den Monte Verita blickt – den „Berg der Wahrheit“. Bereits mit 26 Jahren, 59 Jahre bevor dieses Bild entstand, ist Mary zum ersten Mal an diesen Ort gereist. Als junge Frau wusste sie bereits, dass sie nicht heiraten oder Kinder kriegen wollte – nur eins wollte sie ganz sicher: Tanzen. Der Ort Monte Verita war damals Treffpunkt von Künstlern und alternativen Bewegungen, also Menschen, die etwas anders machen wollten.

Im Sommer 1913 trifft Mary hier den Tanzreformer Rudolf von Laban, über dessen Begegnung sie sagte: „Es war, als käme ich nach Hause“. Die Tänzerin findet an diesem Ort ihren Weg und kehrt auch später immer wieder zum Monte Verita zurück. Mary Wigman wurde zur Mitbegründerin des Ausdruckstanzes und das Foto des Tages im Jahr 1972 ein Sinnbild für ihre Lebensgeschichte.

Porträt von Mary Wigman im Tanzmuseum Köln

Bild von Mary Wigman am Lago Maggiore. Quelle: Deutsches Tanzarchiv Köln

 

Die Geschichte der kleinen Tänzerin Lucy

Es folgen elf weitere Geschichten, welche die Geschichte des Tanzes und persönliche Lebenswege und Anekdoten erzählen. Geprägt sind sie alle von Aufbruch und Euphorie – aber auch von Zeiten der Krise, persönlichen Schicksalsschlägen und Ernüchterung.

Eine dieser Geschichten hat mich besonders berührt: das Schicksal von Lucia Dorothea Burkiczak. Nach der Scheidung ihrer Eltern wurde sie, wie zur damaligen Zeit üblich, zusammen mit ihren beiden älteren Schwestern für eine Weile in die Ducan-Schule mit dazugehörigem Internat gegeben. Im Gegensatz zu ihren Geschwistern kehrte das lebhafte und etwas schwierige Kind jedoch nicht wieder nach Hause zu ihrem Vater und der neuen Frau zurück.

Die Tanzschule der damals modernsten Tänzerinnen Isadora und Elizabeth Ducan wurde also das neue Zuhause der erst fünfjährigen Lucy. Eine gezeigte Postkarte vom 17. November 1927, auf der die zu diesem Zeitpunkt zehnjährige Lucy an ihren Vater schreibt, steht für ihre Geschichte. Lucia wurde Tänzerin – und bereits als Kind als „hüpfende Lucy“ der Duncan-Schule bekannt. Archivdokumente zeigen aber auch, dass sie als erwachsende Frau etwas anders an die Zeit im Internat zurückgedacht hat und ihr vor allem ein fehlendes Gefühl von Geborgenheit geblieben war. So war das Tanzen für die junge Lucy in jenen Jahren eine große Stütze – aber auch ein Ausdruck von Einsamkeit.

Bild der jungen Tänzerin Lucy im Tanzmuseum Köln

 

Drei Bücher und ein Film aus der Tanzgeschichte

Ergänzt werden die 12 Geschichten von einer weiteren Säule der Ausstellung: Neben der in rot-grün gestalteten Ausstellungsarchitektur finden sich drei Bücher auf kleinen gelben Aufstellern. Der Inhalt dieser Bücher könnte passender nicht sein, denn sie erzählen Lebensgeschichten des Tanzes – genauer, das Leben von drei Tänzerinnen. Zu sehen sind Seiten eines Romans über eine Tänzerin in Paris von Ernest Blum (1861), eines Buches über die jung verstorbene Tänzerin Hilde Strinz (1928) und die der Biografie „My Life“ von Isadora Duncan (1927).

Einblick in das Buch der Biografie von Isadora Duncan

 

Zum Ende hin wird die Ausstellung mit weiteren Elementen aus der Tanz- und Musikgeschichte abgerundet: Zu sehen ist der Kurzfilm „Dancing Under the Dustcover“, welcher von einer älteren Tänzerin handelt, die schon in jungen Jahren ihre Ideen, Tänze und Erfahrungen in einer Art Workbook festgehalten hat. Dieses Buch war Ausgangspunkt des experimentellen Films und spiegelt noch einmal die vielen künstlerischen Ebenen des Tanzes und auch dieser Ausstellung wider.

Sehr schön finde ich zudem einen Textauszug des Beatles-Songs „A Day in the Life“ – ein Tag im Leben. Die Zeilen aus diesem Song sind, wie schon das Zitat von Thomas Bernhard zu Beginn der Ausstellung, auf einem Spiegel auf dem Boden zu lesen. So kann jede*r beim Betrachten dieser Worte auch immer sich selbst sehen und reflektieren.

Zitat der Beatles Songs "A Day in the Life" im Tanzmuseum des Deutschen Tanzarchivs

 

Insgesamt habe ich durch die Ausstellung nicht nur einen tollen Einblick in die Tanzgeschichte des 20. Jahrhunderts gewonnen, sondern auch wirklich bewegende Lebensgeschichten kennengelernt, die auch im Nachgang noch einige Anreize zum Philosophieren geschaffen haben.

 

Eine „Bühne“ für den Tanz im Kölner Mediapark

Dass das Tanzmuseum heute als eine Art Theaterbühne des dazugehörigen Archivs im Kölner Mediapark bestehen kann, ist ein großes Glück. Als Ersatz für das ursprünglich in Berlin ansässige und im zweiten Weltkrieg zerstörte Deutsche Tanzarchiv, baute der Tänzer und Pädagoge Kurt Peters (1915-1996) das Archiv ab 1948 zunächst als Privatsammlung in Hamburg neu auf.

Im Jahr 1985 wurde die Sammlung dann von der SK Stiftung Kultur der Sparkasse KölnBonn erworben und in gemeinsamer Trägerschaft mit der Stadt Köln fortgeführt. Durch den Bau des Mediaparks entstand die Möglichkeit, in den neuen Räumlichkeiten eine Art Schaufenster des Archivs zu schaffen und das Tanzmuseum zu eröffnen. Das Deutsche Tanzarchiv ist heute mit einem Bestand von über 500 Nachlässen von Tänzer*innen, Choreograf*innen und Kritiker*innen eines der bedeutendsten Archive zur Geschichte des Tanzes im deutschsprachigen Raum.

Wer die aktuelle Ausstellung „Jahrestage“ gerne besuchen möchte, hat nach den Karnevalstagen noch vom 23.-26. Februar 2023 die Möglichkeit. Ab dem 29. April 2023 folgt die nächste Ausstellung unter dem Titel „Irgendwas fehlt immer! Vom Sammeln und Bewahren.“

 

„Stolpersteine NRW“: Geschichte lokal und digital

Von |2022-12-07T10:06:17+01:0026.10.2022|Digitalkultur|

In Erinnerung an die Opfer der NS-Zeit sind bis dato fast 100.000 Stolpersteine in Europa verlegt worden. Allein in Nordrhein-Westfalen sind es aktuell 15.909 (Stand 26.10.2022) – und jeder einzelne davon erinnert an das Schicksal eines Menschen, welcher von den Nationalsozialisten ermordet wurde.

Die ersten in Deutschland eingelassenen Stolpersteine verdanken wir dem Künstler Gunter Demnig, welcher sein Projekt in den 1990er Jahren – zuerst mit kleineren Aktionen – in Köln gestartet hat. Gunters Anliegen war es, mit jedem der Stolpersteine einem Menschen zu gedenken und diesem an seinem letzten frei gewählten Wohnort Namen und Erinnerung zurückzugeben. Auf seiner Webseite hat der Künstler die Vorgehensweise und Hintergründe erklärt.

 

WDR: „Ein Projekt gegen das Vergessen“

Dass bei den mittlerweile fast 16.000 Stolpersteinen allein in NRW der Überblick etwas verloren gehen kann, ist nicht verwunderlich. Umso besser, dass mit der App „Stolpersteine NRW“ das einst von Gunter Demnig initiierte Projekt im Jahr 2022 durch den WDR überschaubar ins Digitale übertragen wurde. Sowohl auf einer dazugehörigen Webseite als auch in der App können sich User*innen innovativ und interaktiv über das Thema Nationalsozialismus informieren.

In einer interaktiven Kartenfunktion ist jede einzelne der kleinen Gedenktafeln aus Messing hinterlegt, wodurch die Nutzer*innen leicht zu einem beliebigen Standort in NRW navigieren und digital die vielen Stolpersteine in den Städten und Gemeinden erkunden können.

 

Geschichte von zuhause aus entdecken

So ist durch die Digitalisierung des WDR die Möglichkeit geschaffen worden, die Geschichte der Stolpersteine ortsunabhängig nachzuempfinden. Zudem wurde hierdurch aber auch ein zusätzlicher (digitaler) Baustein der Erinnerung geschaffen, welcher auch in Zukunft die vielen Schicksale der NS-Zeit nicht in Vergessenheit geraten lässt. Für ein virtuelles Eintauchen in die Geschichte der Stolpersteine sorgen zudem biografische Texte, Illustrationen und auch historische Fotos. So können sich Interessierte auch von zuhause aus auf eine – wenn auch thematisch bedrückende – Reise in die Vergangenheit machen.

 

„Stolpersteine NRW“ App bringt Vergangenheit ins Hier und Jetzt

Nach dem Runterladen der App gelange ich direkt zu der interaktiven Kartenfunktion, in welcher mir eine (etwas erschreckende) Vielzahl an Stolpersteinen in meiner Umgebung angezeigt wird. So liegt es auf der Hand, das Digitale mit der Vor-Ort-Erkundung zu verbinden, wozu die App sogar eine Routen-Funktion anbietet.

Screenshot der App Ansicht Stolpersteine NRW

Screenshot der interaktiven Kartenfunktion in der App „Stolpersteine NRW“.

 

Gesagt, getan. Spontan ziehe ich los und erkunde einige Stolpersteine in meinem Veedel Köln-Ehrenfeld. Im wahrsten Sinne des Wortes „stolpere“ ich dabei etwas. Denn die Erkundung dieser kleinen Steine und Zeitzeugen der Geschichte ist wirklich bewegend. Zum einen durch die einzelnen Schicksale, welche sich hinter jeder der Messingtafeln verbergen. Zum anderen bin ich aber auch erstaunt, wie häufig ich schon an diesen Orten vorbeigelaufen bin – ohne die Gedenktafeln zu registrieren. Tatsächlich wird die Positionierung der Stolpersteine auf den Gehwegen kontrovers diskutiert, da das häufige „Darüberlaufen“ als unschön angesehen wird. Für mich stellt sich jedoch die Frage, ob eine Anbringung z.B. an den Hauswänden mehr Beachtung finden würde.

In der Leostraße entdecke ich die Stolpersteine von Gertrud und Alexander Buscher. Wie bei allen Stolpersteinen ist ihr Geburtsjahr und das Jahr ihrer Deportation zu lesen. Über den Zeitpunkt ihres Todes scheint nichts bekannt zu sein. Dennoch wird deutlich, dass das Ehepaar 1942 aus Ehrenfeld nach Minsk gebracht und ermordet wurde.

 

Stolpersteine in der Leostraße, Köln Ehrenfeld

 

Auch wenn die Hintergründe sehr erschütternd sein können, finde ich die digitale Umsetzung der Stolpersteine App und die damit verbundene Möglichkeit – sei es NRW-weit oder lokal, digital oder vor Ort – die Geschichte der Stolpersteine zu entdecken, ziemlich gut gemacht und wichtig. Durch das digitale Format sind sowohl das Thema als auch die Orientierung leicht verständlich und für alle zugänglich.

Neben der großen Bedeutung der Überbringung von Geschichte – auch für die nächsten Generationen – wird den Nutzer*innen zudem nahegelegt, einige Ecken der Veedel mal aus einer anderen Perspektive zu betrachten und auch im Alltag ein bisschen genauer hinzuschauen.

Nach oben