Premiere von „Wozzeck“ in Essen: Der Wahnsinn als Leitmotiv

Von |2024-05-27T15:32:31+02:0027.05.2024|Allgemein, Oper|

Am Wochenende stand ein Besuch im Aalto Theater in Essen auf dem Programm, es ist Premiere der Oper „Wozzeck“ (Woyzeck) von Alban Berg. Ich mache mich auf einen schwierigen Opernabend gefasst, da sowohl das Stück „Woyzeck“ als auch die Musik von Alban Berg zumindest für mich nicht gerade leichte Kost darstellen. Da ich die Oper nicht kenne, bin ich gespannt, wie Alban Berg die Geschichte des Anti-Helden Woyzeck auf die Bühne bringt. Tatsächlich passen Alban Berg und „Wozzeck“ ganz prima zusammen und ich erlebe einen spannenden und beeindruckenden Opernabend. 

Wozzeck / Woyzeck: der ewige Anti-Held 

Kurz zur Handlung: Alban Berg setzt in seiner Oper – sehr gekonnt wie ich finde – das Stück „Woyzeck“ von Georg Büchner um. Im Mittelpunkt des Dramenfragments steht der arme, verzweifelte Soldat Woyzeck, der in den gesellschaftlich unruhigen Zeiten der 1830er-Jahre durch seine aussichtslose Stellung in der Gesellschaft mehr und mehr dem Wahnsinn verfällt. Er wird von seinem Vorgesetzen erniedrigt und es gelingt ihm kaum, den Lebensunterhalt für sein uneheliches Kind und dessen Mutter Marie zu verdienen. Um sein Einkommen aufzubessern, stellt er sich für die Forschungsstudien eines skrupellosen Arztes zur Verfügung, der ihn durch eine Erbsendiät psychisch und physisch ruiniert. Als Woyzeck erfährt, dass Marie ihn betrügt, verliert er seinen Verstand vollständig und ersticht sie in geistiger Verwirrung. 

Der Komponist Alban Berg hatte Büchners Drama 1914 im Theater gesehen und beschlossen, dazu eine Oper zu komponieren. Sie wurde 1921 fertiggestellt und umfasst drei Akte und 15 Szenen. Mit seiner atonalen, expressionistischen Komposition unterstreicht Alban Berg die starke Emotionalität des Dramas und die tiefe Zerrissenheit der Hauptfigur in genialer Weise. 

Wahnsinniger Bilderrausch spiegelt den Irrsinn des Wozzeck 

In Essen wird die Oper von Martin G. Berger inszeniert. Ihm und dem Bühnenbild von Sarah-Katharina Karl gebührt besonderes Lob. Mit einer für mich sehr stimmigen Dramaturgie, viel Bühnentechnik und einer imposanten Licht-Installation verwandeln sie die Oper von Alban Berg in einen wahnsinnigen und kurzweiligen Bilderrausch, der wunderbar sowohl zu der Geschichte als auch zur Musik passt. Es werden alle technischen Register gezogen, die die Bühne hergibt, und dennoch wirken die Effekte – auch wenn es viele sind – insgesamt nicht übertrieben oder überladen. Im Gegenteil: Sie helfen mir, die Widersprüchlichkeit und den Irrsinn in Wozzecks Gedanken zu verstehen und seiner Perspektive zu folgen.  

Die Verrücktheit des Protagonisten Wozzeck (Woyzeck) wird zum Leitmotiv der Inszenierung in Essen. Sein Verfall in den Wahnsinn wird schon in der ersten Szene symbolisiert von drei Narren, die Wozzeck in seinem Wohnzimmer heimsuchen und ihn bedrängen. Er verliert mehr und mehr den Bezug zur Realität, hat Wahnvorstellungen und kann sich seiner Umwelt in seiner wirren Gedankenwelt nicht verständlich machen. Dadurch wird er immer stärker isoliert. Nur die Narren verstehen ihn und warnen ihn: Einer wie er würde entweder zum Narren oder zum Mörder. 

 

Szenenbild Wozzeck © Matthias Jung

Szenenbild Wozzeck © Matthias Jung

 

Ensemble Wozzeck © Matthias Jung

Ensemble Wozzeck © Matthias Jung

Alban Bergs atonale Musik fordert das ganze Ensemble 

Alban Berg hat die Geschichte des armen Soldaten Wozzeck mit seiner atonalen Musik stringent und mit viel Tiefgang vertont. Auch seine Musik hat – zumindest für mich als ungeübte Hörerin – viele wahnsinnige und verrückte Züge. Dirigent Roland Kluttig führt sein Orchester souverän durch die Berg- und Talfahrten der Komposition, mal mit leisen Tönen, mal mit voller Wucht.  

Auch die Sängerinnen und Sänger sind extrem gefordert, denn auch sie müssen – so scheint es mir zumindest – stimmlich über die Grenzen des „Normalen“ gehen. Vor allem die Besetzung Titelfigur, Heiko Trinsinger, leistet harte Arbeit in diesen knapp zwei Stunden. Er singt und spielt Wozzeck mit großem Engagement und ist in seiner Zerrissenheit für mich sehr überzeugend. Seine Gesangsleistung ist für meine Ohren grandios. Ebenso gut besetzt ist Deirdre Angenent als Marie, Torsten Hofmann als vorgesetzter Hauptmann und als Arzt Sebastian Pilgrim. Letztere spielen ihre Rollen mit viel Witz und Souveränität. Auch das restliche Ensemble ist gut besetzt und überzeugt an diesem Abend. 

Die zweistündige Aufführung hat alles in allem ein enormes Tempo und führt das Publikum rasant einerseits durch den tristen Alltag des ständig nervösen Wozzeck, andererseits durch den rasanten Wechsel der Wahnbilder, die den Protagonisten mehr und mehr im Griff haben. 

Szenenbild Wozzeck © Matthias Jung

Szenenbild Wozzeck © Matthias Jung

Albtraumhafter, aber tief beeindruckender Opernabend 

Es ist ein albtraumhafter Abend, der sicher nicht als leicht und unterhaltsam klassifiziert werden kann, dennoch aber zutiefst beeindruckt. Getrübt wird der Operngenuss allerdings für mich dadurch, dass es keine Pause gibt. Da ich Neue Musik nicht gewöhnt bin, habe ich die Aufführung als wirklich anstrengend erlebt. Ich hätte sehr gut nach der Hälfte eine Pause brauchen können, um durchzuatmen, aber die ist vom Komponisten wohl nicht vorgesehen. 

Wer Mut hat, für einen zwar anstrengenden, aber dennoch lohnenden Opernabend, dem kann ich „Wozzeck“ in Essen nur empfehlen. 


Die nächsten Vorstellungen: 31. Mai; 6., 23., 27. Juni; 6. Juli; Wiederaufnahme in der kommenden Spielzeit ab 21. September.


Headerfoto: Heiko Trinsinger (Wozzeck). © Matthias Jung

Musikalisch bezaubernd: Carmen in der Oper Essen

Von |2023-06-26T12:29:29+02:0026.06.2023|Oper|

Umstrittene Inszenierung von Lotte de Beer stellt Geschlechter-Rollen in den Mittelpunkt

Ich hatte schon einiges von der Inszenierung der Oper Carmen in Essen gehört, die diese Saison als Wiederaufnahme im Programm war. Meine Freundin erzählte sehr begeistert von ihrem Besuch der Erstaufführung 2018, aber es gab auch verschiedene kritische Stimmen im Netz, wie zum Beispiel eine Rezension vom Deutschlandfunk.

Aus Termingründen hatte ich den Besuch der diesjährigen Wiederaufnahme von Carmen bislang nicht geschafft und war froh, wenigstens die letzte Vorstellung am 24. Juni 2023 noch besuchen zu können. Gemeinsam mit meinem Sohn und einer Freundin verbrachten wir einen kurzweiligen Abend in Essen mit grandioser Musik und vielen „Opern-Hits“.

 

Liebe, Freiheit und die Macht der Verführung

Die Geschichte von Carmen ist sicher sehr vielen bekannt: Es geht um eine schöne Zigeunerin, in die sich die Männer reihenweise verlieben. Vor allem der Soldat Don José verfällt der freizügigen und temperamentvollen Carmen. Sie erhört ihn, aber verlangt von ihm, dass er desertiert und mit ihr als Gesetzloser in den Bergen lebt. Nachdem sie dort gemeinsam einige Zeit verbringen, fühlt sich Carmen zu sehr von Don José eingeengt und trennt sich von ihm. Sie schenkt ihr Herz dem Torero Escamillo und will zu ihm gehen, obwohl Don José sie anfleht, bei ihm zu bleiben. Aus Eifersucht und Verzweiflung ersticht Don José am Ende Carmen.

Die 1875 uraufgeführte Oper von Georges Bizet spielt mit der Beziehung zwischen Männern und Frauen. Es geht um Liebe – natürlich –, aber auch um Freiheit, starke und schwache Rollenbilder und um die Macht der Verführung. Carmen wird als „Femme fatal“ dargestellt, als unzähmbare und begehrenswerte starke Frau, aber auch als „Vamp“, der die Männer in den Abgrund stößt. Don José wird als verführbar, schwach und der Liebe ausgeliefert gezeichnet, er ist das „Opfer“ von Carmen.

Szene der Oper Carmen im Aalto Theater in Essen

Foto: Matthias Jung, Theater und Philharmonie Essen GmbH

 

Wechselnde Kostüme und eine Bühne in Bewegung

In der Inszenierung von Lotte de Beer stehen diese Geschlechterbeziehungen im Mittelpunkt. Sie hinterfragt die Rollenbilder, indem sie alle Protagonisten einheitlich kleidet. Mal tragen alle Darsteller das identische einfache Kleid, mal sind sie alle in Hemd und Hose gekleidet. Es wird blitzschnell zwischen Männer- und Frauenkleidung gewechselt, oft tragen die Frauen Männerkleidung und umgekehrt.

So reduziert wie die Kostüme ist auch das Bühnenbild. Ein sand-gelber Kreis in der Mitte der Bühne stellt die Arena dar, in der sich die Handlung abspielt. Bewegung entsteht nur dadurch, dass die Bühne sich in einigen Szenen hebt oder senkt, so dass Etagen entstehen, auf denen sich die Protagonisten platzieren können.

Bühnenbild in der Oper Carmen im Aalto Theater in Essen

Foto: Matthias Jung, Theater und Philharmonie Essen GmbH

Durch diese uniforme und schlichte Ausgestaltung der Oper wird alles fokussiert auf die Frage der Geschlechter. Es gibt keine Individuen, sondern nur Männer und Frauen, die sich als Gegner gegenüberstehen und genauso gut jeweils die Rolle des anderen übernehmen können, wenn sie nicht in bestimmter Weise geprägt wären. Diese Prägung wird symbolisiert durch zwei Kinder, die immer wieder im Geschehen auftauchen (ein Mädchen und ein Junge) und daran erinnern, dass Männer und Frauen sich in ihrem Verhalten entwickelt haben.

 

Gelungener Opernabend mit grandioser Musik

Insgesamt ist die Idee des Rollen- und Geschlechterkampfes sicher passend und für die Oper Carmen auch eine zutreffende Deutung. Allerdings hat Carmen aus meiner Sicht mehr zu bieten als nur das Thema Rollenbilder. Die einseitige Fokussierung auf dieses Thema mit den immer gleichen Instrumenten (Kostümwechsel, Auftritt der Kinder) ist für mich eine etwas zu einseitige Erzählweise, die viele weitere Facetten der Geschichte „überdeckt“. Gefallen hat mir allerdings das schlichte Bühnenbild, das sehr eindrucksvoll Raum schafft für die Protagonisten und die Musik.

Ein gelungener Opernabend ist die Aufführung von „Carmen“ dennoch. Dies liegt vor allem an der musikalischen Leistung des gesamten Ensembles. Orchester und Chöre singen und spielen fabelhaft, vor allem der Kinder- und Jugendchor begeistert mich sehr. Die Dirigentin Katharina Müllner führt das Orchester mit Tempo und Emotion durch den Abend. Es wird keine Sekunde langweilig.

Chor in der Oper Carmen im Aalto Theater in Essen

Foto: Matthias Jung, Theater und Philharmonie Essen GmbH

 

Eindrucksvolle Darsteller im Aalto-Theater in Essen

Eindrucksvoll sind auch die Sängerinnen und Sänger in den Hauptrollen: Mein Favorit ist Lisa Wittig als Micaela, die tugendhafte Jugendfreundin von Don José und das Gegenbild von Carmen. Überzeugend sind auch Tenor Luis Chapa als Don José und sein Gegenspieler Escamillo in der Besetzung von Almas Svilpa.

Die Hauptfigur Carmen wird gesungen von Mezzo-Sopran Bettina Ranch. Sie bringt Carmen sehr rau und kühl auf die Bühne, für mich ein wenig zu holzschnittartig. Ihre gesangliche Leistung ist allerdings ebenfalls beeindruckend und ihr stimmliches Können selbst für mich als Laie deutlich hörbar.

Insgesamt war „Carmen“ in Essen ein kurzweiliges und sehr emotionales Opern-Vergnügen und der Besuch des Aalto-Theaters im Herzen des Ruhrgebiets hat sich wieder einmal sehr gelohnt. Ich freue mich schon auf die kommende Spielzeit, bei der vor allem Verdis Macbeth meine Neugier weckt…

 

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